Ein Rückblick + Kommentar

nach einem Vortrag von Robyn Lawrence

in einem Workshop des ELP im September 2012

 

 

Im September 2012 haben Wendy Lee, die Direktorin des Educational Leadership Project und weitere 5 Neuseeländerinnen Deutschland bereist. Sie stellten das Curriculum für FrühpädagogikTe Whârikiund die Philosophie des Curriculums vor. Das Beobachtungs- und Dokumentations- verfahrenLerngeschichtenwar ebenfalls das Grundthema der Vortragsreise.

Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Workshops wenden zum großen Teil die Lerngeschichten an und wussten wovon die Rede war.

 

Was war neu?

Für mich war neu: die Aufforderungder Neuseeländerinnen, es müsse einen Paradigmenwechsel auch in Deutschland geben, wenn wir mit der gleichen Selbstverständlichkeit und Intensität Lerngeschichten nutzen wollen, wie es in Neuseeland geschieht.

 

Der Paradigmenwechsel ist in meinen Augen dies:

der Verzicht auf die ausschließliche Anwendung entwicklungspsychologischer Grundannahmen wie Lernen funtioniert.

 

Entwicklung findet nicht nach einem voraussehbaren, für alle Kinder geltenden Muster, statt. Jedes Kind hat sein eigenes Lerntempo und seine eigenen Weg, sich die Welt anzueignen. Manche Kinder überspringen z.B. das Krabbeln und richten sich auf, um das Laufen zu üben. Krabbelnd erkunden sie später oder parallel ihre Umgebung.

Wenn wir annehmen, dass sich jeder Mensch mit seiner individuellen Lernaufgabe beschäftigen muss, haben alle Kinder, mit oder ohne besondere Bedürfnisse, einen Platz, nämlich ihren eigenen. Kommt es darauf an, ob es dem entwicklungspsychologischen Schema entspricht? Es muss sich ohnehin so, wie es „konstruiert“ ist, auf den Weg machen, die Welt zu entdecken. Es fällt uns leicht, dieses zu akzeptieren bei Kindern, die sich z. B. mit Prothesen fortbewegen müssen. Jede Erfindung dieses Kindes, sich kreativ am Leben zu beteiligen, können wir ohne Einschränkung mit Freude zur Kenntnis nehmen. Warum können wir es nicht uneingeschränkt bei allen Kindern? Sie erfinden und verfolgen täglich ihren Weg ins Leben aus eigenem Antrieb und nach eigenem Muster, das sie sich durch Beobachtung ihrer Umgebung erworben haben. „Wir sind so gemacht, dass wir durch Imitation lernen“ (Guy Claxton), gehört als Annahme auch dazu. Darauf gingen die Neuseeländerinnen auch in ihren Vorträgen wunderbar ein.

 

Die Spinnennetz-Metapher

von Robyn Lawrence

 

Robyn Lawrence hat eine Metapher gebraucht, die ein paar wunderbare Bilder bereithält. Sie hat ein von Tautropfen glitzerndes Spinnennetz fotografiert und als Bild in ihrem Vortrag gezeigt. Jedes Menschen Auge hat dieses zauberhafte Phänomen schon einmal wie magisch angezogen. Wie Diamanten schimmert jeder Faden und macht die Form des Spinnennetzes überaus sichtbar. Unser Blick erfasst sofort die Schönheit und Komplexität des Netzes und Staunen über dieses Konstrukt lässt so manchen Menschen zur Kamera greifen.

Dazu bleibt er stehen, schaut hin, vergegenwärtigt sich die Schönheit des Musters, hält es für Wert, zur Kamera zu greifen, um es zu bewahren , im Gedächtnis und um andere am Staunen über das schöne Gebilde zu beteiligen. Ich kenne einige Fotosammlungen, in denen so ein Spinnennetz existiert (das folgende Foto ist aus dem Internet).

 

 

Gerne ließ ich mich von Robyn Lawrence weiter in diese Metapher hineinziehen. Natürlich meinte sie die Bereitschaft des Erwachsenen, das Spinnennetz des Kindes als diamantenes Wunderwerk zur Kenntnis nehmen zu wollen.

Das Magische am Konstrukt des Kindes zu erkennen, bedarf der Bereitschaft und Fähigkeit des erwachsenen Beobachters.

Das ist ein Teil der professionellen Arbeit im Sinne neuseeländischer Pädagogik, so wie ich verstanden habe.

 

Isolde Kock

12.10.2012

 

 

Ungestört Netze bauen

Spinnen erneuern ihr Netz, wenn es zerstört wird, auf die gleiche differenzierte Weise. Sie bauen es wieder auf, als sei keine Störung geschehen. Wenn sie zu oft gestört werden, entsteht irgendwann nur noch ein sehr einfaches Netz. Die Spinne kann damit das Insekt noch fangen, das sie ernährt. Die Schönheit und Vielfalt, Ebenmässigkeit und die Selbstverständlichkeit des Musters ist aber dahin.

 

Sehr leicht kann ich den Zusammenhang herstellen zu den Erfahrungen, die ich als Kind gemacht habe. Wie gerne, wie üppig und mit wie viel Einfallsreichtum und Ruhe habe ich gespielt und die Welt erkundet, bevor ich in die Schule ging.

Auf einem Schrottplatz direkt neben dem Haus meiner Eltern habe ich Materialien ausprobiert, zerkleinert, gemischt und verbrannt, begleitet vom schwarzen, stinkenden, giftigen Rauchfahnen. Ich habe Streichhölzer virtuos gebraucht, bevor ich schreiben und lesen konnte. Die Windrichtung beim Verbrennen war ein wohlbekannter Helfer, den ich gut einschätzen konnte, damit ich an der richtigen Stelle auf dem großen Grundstück das Feuer mit Schwarten von Autoreifen entfachen konnte, damit nicht die falschen Sachen brannten.

Mit einem großen Schlachtermesser habe ich alte Reifen abgespeckt und gestaunt über den Textilmantel, der zum Vorschein kam. Mit dem selben Messer habe ich Rüben zerkleinert und anschließend, in den Schrottautos, auf dem Weg nach "Italien", mit meiner Schwester und drei anderen, gleichaltrigen Kindern als Proviant verzehrt.

Als ich in eine Kleinstadt zog, war es vorbei mit dem Brennen und Schneiden. Aus gutem Grund,denn es gab keine endlos weiten Räume. Bis dahin habe ich aber zum Glück die Schönheit, Beschaffenheit und Formbarkeit von Sandarten in ihren Konsistenzen und Körnungen erfahren. Sandkuchen mit richtigen Hühnereiern behielten ihre Form bis zum nächsten Regen absolut zuverlässig und konnten transportiert werden in unseren Bäckerladen. Pferdeäpfel eigneten sich in den verschiedenen Stadien ihrer Existenz als Grundstoff für Skulpturen und als Wurfgeschosse. Und: man konnte sie verbrennen. Als ich einen Kirschbaum schälte, sah ich eine makellos weiße Holzschicht und erschrak über die Unumkehrbarkeit meines Handelns. Kühe konnte ich an ihrem Fell erkennen, beim Namen nennen und zum Melken treiben. Ihr Fell roch unterschiedlich. Auf den abgehackten Knicks, in riesigen Haufen auf freiem Feld, konnte man wippen, klettern, sich verstecken. Aggressiv zischende Gänse ließen sich bändigen, indem man ihnen die Luft abdrückte, bis sie flüchteten.

 

Was ich auf dem Schrottplatz und auf dem gesamten Grundstück über Materialien erfahren habe, war der Grundstock für meine Tätigkeit als Kunstlehrerin. Ich konnte lange genug mein Netz spinnen, vielfältig, ungestört, um ein Leben lang unerschrocken Materialien kreativ zu gebrauchen.

In der Schule habe ich mich später oft gelangweilt und nach echten Herausforderungen gesehnt. Als Lehrerin habe ich meine Schüler wahrscheinlich dann nicht gelangweilt, wenn wir zum Beispiel Papierskulpturen mit Draht umwickelt und den Papierkern draußen im Freien verbrannt haben, um eine zarte Hohlform entstehen zu sehen.

Kindergärten und Krippen sind kein Schrottplatz. Leider? Messer, Streichhölzer, Sandkuhlen... fehlen die?

Ich muss hinzufügen, dass damals nicht alles, was ich in meinem ersten kleinen Dorf erlebt habe als Paradies zu bezeichnen ist. Wo waren die Erwachsenen in meiner Geschichte?

Die Väter waren fast nicht vorhanden weil sie außerhalb des Dorfes arbeiteten, die Mütter arbeiteten im Haushalt, die Bauern ringsum arbeiteten drinnen und draußen. Alle waren weit weg von uns Kindern und wir haben sie beim Spielen im Freien nicht vermisst. Für die Erkundung der dinglichen Welt war das paradiesisch. Das Gelände war wundervoll und hat seine Wirkung bis heute. Die Beziehungen zu den Erwachsenen waren eher frostig und von Desinteresse geprägt. Wir waren weit und breit die einzigen 5 Kinder, 4 Mädchen und ein Junge im gleichen Alter. Wir waren aufeinander angewiesen, mochten uns, hielten zusammen und passten aufeinander auf.

 

Jeder Leser wird wissen, wie er meine speziellen Erfahrungen einordnen kann und dass ich nicht dafür bin, Kinder unbeaufsichtigt Brände entfachen zu lassen.

Das Erlebnis ungebremsten, gefahrvollen Handelns gönne ich jedoch jedem Kind.

 

 

 

18.10.2012

Isolde Kock

 

 

 

https://bekanntesneuland.wixsite.com/my-site

 

Te Whâriki

Early Childhood Curriculum

1 Te Whâriki.pdf
Adobe Acrobat Dokument 494.5 KB

Das erste Te Whâriki von 1996