Lous Heshusius

 

Professorin für Erziehung an der York Universität, Toronto

 

 

Kindern zuhören: „Was könnten wir möglicherweise gemeinsam haben?“

 

Von der Betrachtung des Selbst zu teilnehmendem Bewusstsein

 

Übersetzung Isolde Kock

 

 

 

Das ewig-alte Geheimnis um die Beschaffenheit des „Selbst“ hat mich in den letzten Jahren zunehmend gefesselt. Die Frage danach, was das „Selbst“ ist und was es nicht ist und wie es in Wechselwirkung steht mit dem „Anderen“, hat in meinem privaten Leben und in meinem Berufsleben eine zentrale Bedeutung eingenommen.

 

Der akademische Teil dieser Suche hat mir eine Einsicht vermittelt: Wir im Westen nehmen an, speziell unter dem Einfluss westlichen Denkens seit der Aufklärung, dass das Selbst klare Grenzen, Absichten und Ziele hat - eine Instanz ist, die alles  Nicht-Selbst  als „ Anderer“ konstruiert, indem es sich als abgetrennt und eindeutig unterschieden annimmt - wobei es dadurch einen Prozess der Trennung von Selbst-Anderer entwirft und anschließend aufrecht erhält.

 

Allerdings war so ein Verständnis nicht charakteristisch für alle Kulturen und Weltanschauungen. Ich habe diese Gedanken an anderer Stelle unter dem Aspekt der Objektivität und Subjektivität in der Erziehungsforschung erörtert (Heshusius 1994). Hier verknüpfe ich die Beziehung zwischen Anderer und Selbst mit der Lehrer- Schüler Beziehung, mit dem besonderen Augenmerk darauf, wie Lehrer jungen Menschen, die sie unterrichten, zuhören oder nicht zuhören.

 

 

 

Ein „zweckfreier“ Auftrag

 

Während der letzten Jahre pflege ich in Kursen mit Studenten der Erziehungswissenschaften vor dem ersten akademischen Grad, jedem Studenten die Aufgabe zu geben, sich auf ein Gespräch mit einem jungen Menschen einzulassen. Dieses Projekt dient dazu, dass sich die beiden kennen lernen – keinesfalls für lehrerdienliche Zwecke, um Unterrichtsstunden besser planen zu können oder die Kinder zu beurteilen.

 

Die Studenten sollen kein Interview leiten (sprich: Fragen abspulen), durch das sie das Gespräch unter Kontrolle haben. Es ist auch nicht beabsichtigt, dass die Studenten eine Situation schaffen, in der sie bewusst ein Kind kennenlernen wollen, dessen Lehrer sie möglicherweise sein könnten, obwohl sie ihre Lehrer-Identität aus der Interaktion heraushalten. Das Kind soll mindestens 6 und höchstens 14 Jahre alt sein und soll ihnen nicht oder nur oberflächlich bekannt sein.

 

Indem ich diesen Auftrag entwickelte, hatte ich die Absicht, den Selbst-Anderer Zusammenhang innerhalb der „normalen“ Dozenten-Studenten-Beziehung zu problematisieren. Ich wollte sehen, was passiert, wenn jemand die Lehrer-Studenten auffordert, Kindern wirklich zuzuhören.1

 

Dieser Auftrag besteht aus zwei Teilen:

 

a) ein Protokoll ihrer Unterhaltung in bestmöglicher Form anzufertigen und

 

b) über ihre persönlichsten Reaktionen im Hinblick auf diesen Auftrag nachzudenken: was hat diese Unterhaltung über sie selbst ans Tageslicht gebracht? Was fühlten, dachten, erwarteten sie, beunruhigte sie, erfreute sie, missfiel ihnen vor, während und nach der Unterhaltung und warum?

 

Ich kam zunächst auf diesen Auftrag, weil mir in meinem eigenen Leben die Komplexität des Vorgangs beim Zuhören und Sprechen bewusst geworden war. Ich bemerkte, dass andere Menschen mir nicht wirklich zuhörten und auch ich selten anderen Menschen wirklich zuhörte! Es war einfach, zu der genannten Erkenntnis zu gelangen, aber es war mir nur in den ehrlichsten und in urteilsfreien Augenblicken möglich, mich selbst zu beobachten und letzteres zur Kenntnis zu nehmen. Es passierte nur, wenn ich mich befreien konnte von jedem Bedürfnis, mein Zuhörverhalten zu bewerten (als „gut“ oder „schlecht“). Dann konnte ich anfangen zu sehen, was passierte, wenn ich dachte ich höre zu und tat es in Wirklichkeit nicht.

 

Ich entdeckte, dass ich meistens mit mir selbst beschäftigt war, während ich dachte , ich höre zu: ich machte mir Gedanken, was mir die Botschaft des anderen bringt; ich hatte eine vage Ahnung von dem, was ich jetzt lieber täte als dieser Person zuzuhören; ich machte mir Gedanken, was ich antworten könnte bezogen auf die Rolle, die ich spielte (z.B. Lehrerin oder Mutter); auch machte ich mir Gedanken, was ich als nächstes sagen könnte, um das Thema in eine andere, interessantere Richtung zu lenken. Nicht, dass ich das alles absichtlich und bewusst gemacht habe; diese Formen des Zuhörens (oder teilweise-Zuhörens oder nicht-Zuhörens) spielen sich als Gewohnheiten ab, die wir nur schwer erkennen.

 

Ich begann, verstärkt darauf zu achten, wie andere Menschen sich verhalten, wenn ich spüre, dass sie mir wahrhaftig zuhören; diese gelegentlichen Augenblicke, in denen ich weiß, dass Menschen ganz und gar zuhören ohne jede Beschäftigung mit sich selbst. Ich fühle dann die volle Aufmerksamkeit der Person. Es ist dann eine Ruhe, eine Stille um diese Person. Nichts in ihren oder seinen Absichten ist abwägend, bewertend, urteilend oder formuliert unerbetene Ratschläge. Solche Begegnungen sind selten, aber wundervoll. Du fühlst dich rundum wahrgenommen, so dass du laut denken, laut fühlen, langsam oder schnell gehen kannst und du weißt, der andere Mensch ist bei dir. Die Zeit scheint still zu stehen.

 

 Als nächstes lege ich es darauf an, mich absichtlich während solcher gelegentlichen Augenblicke zu beobachten, in denen ich einem Erzählenden vollkommen zuhöre: Augenblicke, in denen selbstzentrierte Betrachtungen keine Rolle zu spielen scheinen. Wenn das geschieht, fühle ich mich ruhig und gleichzeitig sehr lebendig; gänzlich aufmerksam bei dem Anderen. Da geschieht eine Art Aufmachen. Das Selbst ist vergessen; es gibt kein „Ich“, mit den Gedanken woanders oder urteilend. Ich werde zu etwas Größerem als ich selbst es bin – etwas, das für diesen Moment, nicht erklärbar ist. Ich fand heraus, dass ich so nur sein kann, wenn ich nicht müde bin, nicht zu beschäftigt und wenn ich eine freundliche Gesinnung dem Anderen gegenüber habe. Andernfalls rutsche ich rückwärts in die Gedankenabwesenheit meiner eigenen Angelegenheiten, Gefühle und Ego-Bedürfnisse, die mich unweigerlich zu einem halbherzigen oder gar abwesenden Zuhörer machen.

 

 Ich dachte über Kinder und Lehrer nach. Wir wissen, dass Lehrer normalerweise am meisten sprechen. Angesichts dieser Tatsache habe ich eingehende Aufmerksamkeit auf diese Art des Sprechens und Zuhörens in meinem eigenen Leben gerichtet und entdeckte, wie schwer es ist, wirklich zuzuhören. Ich beschloss, die Studenten in meiner Klasse zu beauftragen, Kindern wirklich zuzuhören. Ich selbst konnte mich nicht an viele Lehrer in meiner eigenen Schullaufbahn erinnern, die Zuhörer in dieser gänzlich aufmerksamen Art waren - auf welcher Ausbildungsstufe auch immer. Nur einer fiel mir ein: ein Professor für Weltliteratur auf einem Lehrercollege vor 30 Jahren. Nur einer. (blau hervorgehoben durch I.Kock)

 

 

 

Welche Bedingungen sollten es sein, unter denen die Studenten den Kindern zuhörten? Worüber sollten sie sich unterhalten? Ich argwöhnte, wenn ich ihnen ein bestimmtes Thema oder ein Ziel geben würde (z.B. etwas über das Hobby des Kindes zu erfahren, um eine Unterrichtsstunde dazu zu planen), würde ich ihre Köpfe mit Gründen füllen, sich Gedanken zu machen über ihre eigenen Absichten beim Reden und Zuhören. Das würde die volle Aufmerksamkeit dem anderen gegenüber hemmen. Daher beschloss ich, ihnen den Auftrag zu geben, zweckfrei zuzuhören.

 

 Sehr viele Studenten haben mir gesagt, diese „zweckfreie“ Aufgabe sei der ungewöhnlichste Auftrag gewesen, den sie jemals bekommen hatten. Ihre bisherigen Aufträge, die sich darum drehten, Kindern zuzuhören, hatten alle mit einer bestimmten Art des Unterrichtens zu tun. Ich bat sie darum, nur mit einem Kind zu sein und zuzuhören. Ich dachte, das könnte die Möglichkeit erleichtern, das Selbst zu vergessen und stattdessen könnte die volle Aufmerksamkeit auf das gerichtet sein, was sich in einem neuen Selbst-Anderer-Raum ereignen kann. Mir wurde klar, dass ich meine Studenten bat, sich mit einer völlig anderen Selbst-Anderer-Beziehung auseinanderzusetzen, die sich deutlich davon unterschied oder die im direkten Gegensatz zu dem stand, was stillschweigend der Identität eines Lehrers zugeordnet wurde und die sie anstrebten.

 

 Weiter unten werde ich einige Hauptthemen der Reflexion von Studenten wiedergeben. In Bezug auf die Qualität und Richtung der Aufmerksamkeit während des Zuhörens gab es zwei bedeutsame Wege, in der sich die Selbst-Anderer-Beziehung bemerkbar machte.

 

Erstens, viele Kommentare zeigten, dass bei den meisten Studenten die Aufmerksamkeit (besonders vor und während der Anfangsphase des Gespräches) durch die Beschäftigung mit sich selbst begrenzt und gekennzeichnet war. Diese Beschäftigungen lenkten das Gespräch und verwandelten es in ein Interview. Es erlaubte dem Pädagogik-Studenten, die Kontrolle über die Richtung des Gespräches zu behalten, das Kind psychologisch/emotional als „Anderer“ auf Distanz zu halten und eine Selbst-Anderer Trennung beizubehalten. Die meisten Studenten unterstellten a priori, dass sie wahrscheinlich gar nicht genug mit einem Kind gemeinsam hatten, um darauf ein nicht-lehrermäßiges Gespräch aufzubauen. Typischerweise, indem das Gespräch in ein Interview verwandelt wurde, war es möglich, durchgehende Kontrolle über die selbstgewählte Selbst-Anderer Distanz zu behalten (blau hervorgehoben durch I.Kock).

 

Zweitens zeigte sich zu einem guten Teil, aber gewiss nicht für alle Studenten, ein Wandel: so etwas wie Identifikation mit dem Kind fand statt. Das schien einige der selbst-zentrierten Bedenken und die daraus resultierende Selbst-Anderer Trennung aufzulösen. Das Ergebnis war, es stellte sich eine vollständigere Weise der Aufmerksamkeit ein. Diese Wendung machte sich typischerweise dann im Gespräch positiv bemerkbar, als ein gewisser Grad an Behaglichkeit und ein kleiner Glanz von wirklichem Interesse, was es dem Erwachsenen wiederum leichter machte die Beschäftigung mit dem eigenen Selbst loszulassen.

 

Dieser Wandel schien möglich wegen des zweckfreien Charakters des Gespräches und wegen der zugehörigen Bedingungen, die das Gespräch selbst hervorbrachte: eine Offenheit zwischen dem Erwachsenen und dem Kind; ein Gefühl der Freude über die Umgänglichkeit und die wachsende Vielfältigkeit des Gespräches; die Entdeckung einer gemeinsamen Ebene von Kindheit; und ein Gefühl von authentischem Interesse und Empathie, wenn schwierige Lebenssituationen des Kindes im Mittelpunkt standen.

 

Das geschah sicherlich nicht mit allen Studenten. Denen, die die Unterhaltung „im Griff“ behielten, passierte dies nicht. Sie gestalteten das Gespräch wie ein Interview. Es passierte auch denjenigen nicht, die von einem Thema zum anderen hüpften, die Kontrolle dabei behielten und das Gespräch auf einem oberflächlichen Niveau hielten. Es folgt hier eine Zusammenfassung von studentischen Reflexionen. Alle Beispiele, einschließlich des Titelthemas, sind direkte Beiträge von studentischen Aufsätzen und sind repräsentativ für die Mehrzahl der Kommentare.2

 

 

 

 Das Aufrechterhalten der Trennung von Anderer-Selbst

 

Was habe ich möglicherweise gemeinsam“?

 

Ich hatte erwartet, dass einige Studenten eine gewisse Angst, eine verständliche Nervosität, vielleicht zu Beginn der Aufgabenstellung, empfinden – ein ungewisses Gefühl in Erwartung von etwas Neuem, das man nicht kontrollieren kann. Ich war aber nicht auf die Reaktion der Mehrheit der Studenten gefasst, die ihre (manchmal extreme) Nervosität auf das Urteil zurückführten, Kinder seien so anders, dass es nicht möglich sei, sich „einfach nur miteinander zu unterhalten“.

 

 Wie ist es möglich, ein 20-Minuten-Gespräch mit einem Kind zu führen, das ich relativ wenig kenne?

 

Es war ein ziemliches Abenteuer, mich an jemanden, der halb so alt war wie ich selbst, mit dem Versuch zu wenden, ein zwangloses Gespräch zu initiieren.

 

Ich konnte keinen Sinn darin sehen, mich mit einem Schüler 20 Minuten über irgendetwas zu unterhalten.

 

Ich dachte, es ist peinlich, sich mit einem Kind hinzusetzen, das ich nicht wirklich kenne und ein ungezwungenes Gespräch zu beginnen.

 

Beim Feedback im Kurs habe ich den Studenten folgenden Kommentar gegeben: „Sie planen mit einer Gruppe von Menschen jeden Tag zusammen zu sein, von denen Sie denken, dass sie nichts mit ihnen gemeinsam haben?“ Ein recht verlegenes, überraschtes Lachen war die typische Reaktion.

 

Diese Pädagogik-Studenten waren angetreten mit einer Vorstellung von Gesprächen mit Kindern, die nur innerhalb ihrer Lehrerautorität angesiedelt war. Diese Selbst-Anderer-Beziehung war bestimmt von dieser Autorität.

 

 

 

Ich kam zu dem Schluss, dieses ist ein sehr begabtes Kind“

 

Obwohl ich wiederholt betont hatte, dass die Reflexionen sich nur um das Selbst der Studenten drehten (in diesem speziellen Arbeitsauftrag war ich überhaupt nicht an den Kindern interessiert), konnten sich ein paar Studenten durchaus nicht von dieser allumfassenden, den Anderen prüfenden Lehrer-Funktion lösen. Vier bis fünf Studenten jedes Kurses sagten fast nichts über sich selbst, sondern sie analysierten stattdessen das Kind und behielten erfolgreich die Selbst-Anderer-Trennung bei. Wenn ich es ihnen vor Augen führte, schien es einigen von ihnen dennoch unmöglich, zu erkennen, dass ihr Blick auf dem Kind und nicht auf ihnen selbst lag. Sie pflegten zu sagen: „Aber das ist mein Blick auf das Kind ... es handelt sich um mich.“

 

Mit zwei dieser Studenten ist es mir niemals gelungen, aus dieser unflexiblen Lehrerhaltung herauszutreten. Sie bestanden darauf, ihr Selbst an einem sicheren, versteckten Platz zu belassen. Zu den Studenten, die das Gespräch in ein Interview verwandelten, gehörten gleichzeitig auch diejenigen, die diese Aufgabe als Analyse von Kindern auffassten, wie ich im nächsten Punkt veranschauliche.

 

 

 

Ich stellte Fragen, um sie zum Weitersprechen zu bewegen!“

 

Während der Aufgabenbesprechung hatte ich sorgfältig betont, dass dieses Gespräch, wegen des Fehlens jedweden vordefinierten Zieles, nicht als Interview gedacht sein könne. Letztendlich ist ein traditionelles Interview, um das Denken, die Bedürfnisse und das Verständnis des Interviewers angeordnet. Sie könnten also kein Bündel von Fragen auf das Kind „abfeuern“. Aus diesem Grund erklärte ich ihnen, sie sollten sich noch nicht einmal Gedanken machen, welche Frage sie stellen könnten. Trotz meiner Warnungen haben 8 bis 10 Studenten jedes Kurses das gesamte Gespräch wie ein Interview „abgewickelt“. Das Bedürfnis nach Kontrolle kam klar zum Durchbruch, was in Niederschriften wie dieser endete:

 

 Student: Wie heißt du?

 Kind: Nicole Hammen 3

 S.: In welcher Klasse bist du?

 K.: Fünf.

 S.: Hast du einen Bruder oder eine Schwester?

 K.: Ja, eine kleine Schwester, sie heißt Stefanie.

 S.: Wie alt ist sie?

 K.: Drei Jahre alt.

 S.: Und Brüder?

 K.: Nein, nur meine Schwester.

 S.: Wird sie hier zur Schule gehen?

 

In ihren Reflexionen waren sich die meisten Studenten, die eine „Unterhaltung“ dieser Art geführt hatten, bewusst, dass sie das Kind eher interviewt hatten statt zugehört und gesprochen zu haben ohne einen speziellen Zweck:

 

Bis zu diesem Punkt fühlte sich die ganze Situation ein wenig steif an... Ich habe zu viele Fragen gestellt.

 

Ich versuchte Fragen zu stellen, die eine gehaltvollere Antwort hervorbringen sollten. Aber als ich das tat, kam ich mir irgendwie schuldbewusst vor. Ich hatte den Eindruck, dass ich das Gespräch manipuliert habe, statt uns beiden das Erlebnis einer natürlichen Unterhaltung zu ermöglichen.

 

Das Bewusstsein von Kontrollbedürfnis wurde oftmals so ausgedrückt:

 

Die Diskussion war meistens einseitig … es war in weiten Teilen mein Tun … Ich habe das Gespräch an mich gerissen …

 

Ich habe erfahren, wie verdammt oft ich es nötig hatte, die Kontrolle zu haben!

 

Es machte mich nervös, mich ihr einfach zu nähern … Ich war unwillig, diese Mauer von Unnahbarkeit einzureißen, die ich aufrecht erhalten habe … Ich glaube, ich habe mich ziemlich bequem gefühlt in der von mir eingerichteten Kontrolle über die Beziehung.

 

Ein paar Studenten jedoch – ein oder zwei in jedem Kurs – die eine Serie von Fragen auf die Kinder abgefeuert hatten, waren sich nicht der Tatsache bewusst, dass sie es getan hatten, bis ich es ihnen vor Augen geführt habe. Sogar dann hatten sie es schwer, es zu erkennen. Man könnte vielleicht meinen, dass es möglich wäre, Kinder durch ein Interview kennenzulernen. Aber diese Art von Kennenlernen ist ganz und gar das Anliegen des Interviewenden und unterliegt dessen Kontrolle. Das erstrebte Wissen ist nicht das Anliegen des Kindes, das möglicherweise von ganz anderer Natur und von ganz anderer Qualität sein könnte.

 

 

 

Die Auflösung der Selbst-Anderer Trennung

 

Kinder wissen mehr als du denkst!“

 

Der Selbst-Anderer und Erwachsener-Kind Abstand löste sich auf, wenn Studenten erkannten, dass Kinder weit mehr wussten als sie erwartet hatten. Sobald sie von der typischen Erwachsenenkontrolle über das Gespräch abließen, erfuhren sie, dass das Denken der Kinder auf einem weitaus höheren Niveau stattfand, als sie es durch vorangegangene Interaktionen mit ihnen erfahren hatten. Durch das erneute Betrachten der Eigenart des Anderen, kamen sie zu einer anderen Betrachtung ihres eigenen Selbst:

 

Ich hatte nicht erwartet, dass das Denken eines 8jährigen Kindes von derartiger Intensität ist.

 

Ich war es, der auf Abstand war. Sie war eine sehr gute „Auskunftgeberin“ und war sich weitaus mehr Dinge bewusst, als ich ihr jemals zugetraut hätte.

 

Ein Kind kann einer Unterhaltung …eine Perspektive hinzufügen, die völlig unerwartet ist.

 

Wie ist es möglich, sich nicht in diese spontane Art des Denkens und in die unverhohlene Aufrichtigkeit zu verlieben?

 

Seine Ausdrucksweise hat mich überwältigt!

 

Es war, als spräche ich zu mir selbst.“

 

Viele Studenten schrieben, dass das unstrukturierte Zusammensein mit Kindern, Kindheitserinnerungen in ihnen weckte. Normalerweise waren diese Erinnerungen positiv, wenn auch nicht immer; manchmal waren sie nostalgischer Art. Manchmal schienen sie etwas romantisiert, brachten jedoch immer ein gewisses Maß an psychischer, emotionaler und körperlicher Identifikation mit dem Kind hervor, das die Selbst-Anderer Trennung verminderte:

 

Für einen kleinen Moment fühlte ich mich wie ein Kind … ich war ganz aufgeregt.

 

Ich wunderte mich sowohl über die Gefühle, die ans Tageslicht kamen, als auch über die Erinnerungen, die unser Gespräch auslöste. Es war ein zutiefst persönliches Erlebnis.

 

Ich möchte dieses Kind besser kennenlernen.“

 

Wenn die Gespräche ihrem Ende entgegen gingen, brachten viele Studenten ihren Wunsch zum Ausdruck, dass sie das Kind besser kennenlernen möchten:

 

Ich hatte eine so gute Zeit erlebt, dass ich sie nicht enden lassen wollte.

 

Indem ich eine Aufgabe erfüllte, bekam ich einen Freund.

 

Ich erinnere mich an einen Gedanken: „Ich möchte mich weiter mit diesem Kind unterhalten.“

 

Jenseits von Psychologisieren

 

Diese Aufgabe zielt weder darauf ab, über Kinder, Lehrer oder deren Interaktion zu psychologisieren, noch will sie eine humanistische Gesinnung pflegen. Ich bewege Lehrer nicht dazu, zu bewirken, dass sich Kinder besser fühlen, indem Lehrer ihnen zuhören oder indem sie das ganze Kind ansprechen. Solche Ziele sind darauf gerichtet, den Anderen zu ändern, basieren auf einem Konzept von Selbst-Anderer-Abgrenzung und stellen den Anderen als einzigartig, individuell, getrennt und abgeschieden dar. Logisch schlussfolgernd wird so das Selbst gewissermaßen als fortdauernd und relativ bestimmt in seinem Wesen angesehen, als könnten die Grenzen zwischen Selbst und Anderem klar gezogen werden.

 

Meine Aufgabe hat zum Ziel, ein abweichendes Verständnis von der Natur der Selbst-Anderer Grenze zu erwecken – nicht starr, nicht klar umrissen, sondern durchlässig und wandelbar. Es kann sich totale Aufmerksamkeit einstellen, wenn das Bewusstsein, in das sich jemand begibt, partizipatorisch ist. Die Grenzen zwischen Selbst und Anderer lösen sich auf: Selbst und Anderer sind nicht abgetrennt und unterschieden. Es gibt keinen festgelegten Kern des Selbst oder des Anderen (siehe auch Berman, 1990; Heshusius, 1994; Schachtel, 1959; Varela, Thompson, & Rosch, 1991).

 

Manche Studenten haben es nicht geschafft, sich selbst außerhalb des Rahmens humanistischer Haltung, in der sie gut unterrichtet waren, vorzustellen. Sie sorgten dafür, sich vom Kind abgetrennt und unterschieden zu halten. Ich hingegen wollte ihre Erfahrungen auf eine sehr andersgeartete Auffassung von Selbst-Anderer lenken, indem ich ihnen vermitteln wollte, dass Kindern zuzuhören beeinflusst ist durch das Konzept, das wir vom Selbst haben: Beschließen wir ( mit dem „knackigen“ Entschluss, das Selbst und den Anderen als „einzigartig“ und „ganz“ zu betrachten), unser Selbst als abgetrennt und unterschieden anzusehen oder lösen wir zeitweise die Grenzen auf, machen vollständige Aufmerksamkeit dem Anderen gegenüber möglich und öffnen infolge dessen den Zugang zu neuen, unerwarteten Wegen?

 

Die Aufgabe half den meisten Studenten, gewahr zu werden, dass die Grenzen, die wir um unser Selbst gezogen haben, unseren egoistischen Bedürfnissen entspringen, die sich leicht durch Kontrollmechanismen äußern und der vollen Aufmerksamkeit im Wege stehen. Studenten haben erkannt, dass jene Lehreridentität, die sie anstrebten, als so eine Blockade wirksam werden könnte.

 

Es gibt Momente, in denen man seine Lehreridentität am besten aus der Selbst-Anderer-Beziehung heraushalten sollte, um dem Anderen wirklich zuhören zu können. Die Wahl, sich so zu entscheiden, kann nur absichtlich getroffen werden mit genug Bewusstsein vom Selbst und mit Aufrichtigkeit gegenüber dem Selbst.

 

Weiterhin verhalf die Aufgabe den Studenten zu der Erkenntnis, dass „Kindern zuzuhören“ nicht so einfach ist wie es klingt oder ohne humanistische Theorie zu klingen scheint. Es ist tatsächlich sehr schwer, wenn Zuhören stattfindet ohne das partizipatorische Bewusstsein, durch das man konfrontiert wird mit dem gewohnheitsmäßig auftauchenden Fokus auf dem Selbst. Kindern in partizipatorischer Weise des Bewusstseins zuzuhören, handelt nicht davon, den Selbst-Anderer-Respekt zu fördern oder davon, dem ganzen Kind Aufmerksamkeit zu schenken: Hier geht es nur um Begrenzungen. Es geht hier um Begrenzungen, die wir gewohnheitsmäßig um unser Selbst ziehen, um Trennung und Unterscheidung vom Anderen zu gewährleisten. Hier geht es um die Möglichkeiten, solche Begrenzungen aufzulösen, so dass wir den Anderen kennenlernen können und dadurch, paradoxerweise, auch vollständiger das eigene Selbst.

 

 Volle Aufmerksamkeit: Eine partizipatorische Art des Bewusstseins

 

Seit ich diese Aufgabe zum ersten Mal gestellt habe, beansprucht mich schon seit Jahren eine intensivere Studie über die verschiedenen Arten des Bewusstseins, innerhalb derer wir die Selbst-Anderer Beziehung in Begriffe kleiden im Zusammenhang mit den verschiedenen Qualitäten der Aufmerksamkeit (siehe Heshusius,1994; siehe Schachtel, 1959; ähnliches Material, siehe Berman,1981,1990; Harman,1988; Keller,1983,1985; Tarnas,1991). Wenn wir mit irgendeinem Aspekt des Selbst beschäftigt sind, konstruieren wir Abstand zwischen unserem Selbst und dem Anderen, begründet auf der vorrangigen Existenz des Selbst als eine abgetrennte und individuelle Einheit. Diese Definition des Selbst ist charakteristisch für westliches Denken. Der Abstand wird aufrecht erhalten unter den Bedingungen des Selbst, obwohl wir meinen, dem Anderen zuzuhören.

 

Das heißt nicht, dass wir niemals unter den Bedingungen des Selbst antworten sollen. Es gibt sicherlich Zeiten, zu denen es nötig ist, dass wir zielgerichtet zuhören und dabei im Kopf haben, wie wir als nächstes handeln, denken, uns selbst fühlen oder welche Frage wir als nächste stellen müssen. Mein Standpunkt ist hier, dass es wichtig ist, den Unterschied zu kennen zwischen zielgerichtetem Zuhören und Zuhören ohne spezifischen Zweck, was bedeutet, nichts damit zu wollen. Letzteres öffnet, paradoxerweise, besseren Zugang zur Ganzheit des anderen.

 

 

 

Ich glaube, der Unterschied zwischen zielgerichtetem und zweckfreiem Zuhören kann intellektuell nicht erfasst werden. Er muss eher handelnd verstanden werden und nicht   durch ein Konzept oder mit Worten. Wir müssen uns selbst beobachten, nicht -bewertend, damit wir sehen (nicht analysieren und urteilen), was der Verstand tut, wenn wir meinen, dass wir zuhören. Wenn es uns gelingt, uns zu beobachten, während wir dem Anderen unsere volle Aufmerksamkeit schenken (wahrscheinlich machen es die meisten von uns öfter) auf der Grenze zwischen Erwarten und Tun als ob, nur dann können wir bewusst den Modus unseres Zuhörens ändern. Wir müssen vorrangig auf den Unterschied achten.

 

 

 

Wenn man den Wunsch hat, ganz aufmerksam sein zu können, ist es möglich, zeitweise das Selbst zu entlassen und dem Anderen volle Aufmerksamkeit zu schenken. Man kann sich von egozentrischen Bedürfnissen nicht lösen, wenn man sie nicht vorher klar in ihrer Funktion beobachtet hat. Das Problem mit egozentrischen Bedürfnissen ist nämlich, dass sie sich tief in unser tägliches Leben verwurzelt haben und in einer Etage eingepfercht sind, die "außerhalb des Bewusstseins" heißt. Man kann sie nur in nicht-wertender Sicht zeitweilig entlassen und ganz aufmerksam sein.4

 

Der Modus, in dem egozentrische Bedürfnisse nicht im Wege stehen, wurde als teilnehmender Bewusstseins-Modus dargestellt. Das hat nicht mit dem Handeln oder mit sprachlichen Erfahrungen an sich zu tun, sondern es hängt mit der Art zusammen, wie man mit anderen zusammen ist und mit dem Selbst, das passiv wach ist, wachsam aber nicht aufdringlich, eine Art der Aufmerksamkeit, die charakterisiert ist sowohl durch den „totalen Akt des Interessiert-Seins“ als auch durch  „Anteilnahme der ganzen Person“ (Schachtel ; 1959; S.225). Es beinhaltet ein zeitweiliges, völliges Verblassen aller egozentrischen Gedanken, Wünsche und Sorge um das Selbst. (S.181). Man will nichts oder braucht nichts von dem anderen. Man will nichts erreichen.“

 

 

 

 

 

 Zusammenfassung

 

Gewiss wurde das Geheimnis der Natur des Selbst durch diesen Artikel nicht geklärt. Ich hoffe aber vielleicht, im Hinblick auf die Lehrerausbildungsprogramme, den ausgedehnten Umfang des Verständnisses vom Selbst in Begriffen einer festgelegten Lehreridentität problematisiert zu haben. Auf Grund dieser Lehrer-Selbst-Identität glaubten die Pädagogik-Studenten, mit denen ich gearbeitet habe, nichts mit Kindern gemeinsam zu haben, um darauf ein Gespräch aufzubauen. Indem ein Gegensatz zu dieser Lehrer-Selbst-Identität ins Spiel gebracht wurde, wurde diese destabilisiert und es wurde eine ausgedehntere Realität geschaffen, in der Pädagogik-Studenten Erfahrungen sammeln konnten mit der Selbst-Anderer-Beziehung zu einem Kind auf einer weniger festgelegten, aber komplexeren und wandlungsfähigen Basis.

 


Lehreridentität wird in Lehrerausbildungsprogrammen charakteristischerweise eingegrenzt, indem man von der Notwendigkeit des Planens, Managens, Lenkens, Prüfens spricht – mit anderen Worten, man muss eine Reihe vorher festgelegter Ziele für den Umgang mit Kindern haben.  Die Aufgabenstellung, die ich als Transportmittel zur Erkundung der Natur des Selbst (und damit des Anderen) benutze, unterbricht so eine legitimierte Kontroll-Identität. Es wendet sich offensichtlich gegen jedes allgemeingültige Verständnis von dem, was es heißt, „Lehrer zu werden“. Als Ergebnis haben Studenten gesehen, dass das Selbst keine starre Identität ist, sondern formend und formbar ist in Selbstanderer-Begegnungen.5

 


Ich hoffe, dass die Studenten gelernt haben, dass, wenn man das Selbst als eine festgelegte Einheit versteht, es zu einer schwerwiegenden Einschränkung des Zugangs zu Anderen führen kann und dass dies zudem die Möglichkeit verschließt, zu einem bereicherten eigenen Selbst zu gelangen und zu wandelbarer Realität. Ich hoffe, dass Studenten bewusster erfahren haben, was es bedeutet, das Selbst willentlich zu entlassen und dabei zu entdecken, welch gute Beziehung sie als Menschen zu den Kindern aufzubauen können. Um Kinder zu hören, müssen wir unser Selbst aus dem Weg nehmen.

 

 Ich hoffe, dass die Studenten gelernt haben, dass etwas gemeinsam haben und nichts gemeinsam haben wandelbare Prozesse sind: sie sind keine gefestigten Zustände. Auch sollte die Grundlage vom Selbst nicht separat gesehen werden. Es ist der Raum, der zwischen dem etwas gemeinsam haben und nichts gemeinsam haben, der die Möglichkeit zu aufrichtigen Dialogen gibt und damit existiert die schöpferische Bedingung für wirkliches Zuhören, Sprechen und Lernen.

 

  

 

Anmerkungen

 

1.      Natürlich war diese Aufgabe auf eine Weise künstlich, alleine durch die Tatsache, dass es eine Aufgabe war. In jedem Kurs erhoben ein oder zwei Studenten anfangs auf dieser Basis Einspruch gegen diese Aufgabe. Allerdings erklärten innerhalb von 3 Jahren zwei Studenten, denen ich diese n Auftrag erteilte, dass dieses bis zum Ende ein Problem für sie darstellte. Andere, die anfangs die Aufgabenstellung für künstlich hielten, erklärten, dass sich diese Perspektive auflöste im Verlauf des Gespräches. In fast allen Fällen war es das Kind, das die Künstlichkeit überbrückte und dem Erwachsenen die Nervosität nahm.

 

2.     Die Reflexionen der Studenten stammen aus Dokumenten, die mir 135 Studenten freiwillig für den Gebrauch in diesem Artikel überlassen haben.

 

3.     Hier wurde ein Pseudonym gebraucht.

 

4.    Jiddi Krishnamurti (siehe Krishnamurti,1954,1972) war besonders hilfreich mit seiner Beschreibung, weshalb unsere Beobachtungen nicht bewertend sein dürfen. Indem wir uns selber sagen, “das ist gut“, „das ist schlecht“, trüben diese Urteile unsere Fähigkeit, zu sehen. Der Verstand verrennt sich dann in Urteile, statt zu sehen und ist mit dem Selbst beschäftigt.

 

5.     Ich benutze den Begriff („selfother“) „Selbstanderer“, um den Zustand der zeitweilig erlebten Einheit von Selbst und Anderer innerhalb eines teilnehmenden Bewusstseins widerzuspiegeln. Berman (1981, S.335) empfiehlt in ähnlicher Weise das Wort (selfother) Selbstanderer, obwohl er selbst es als misslich bezeichnet, da der noch vorherrschende Diskurs des Cartesianischen Dualismus nicht zulässt, dass wir uns in nondualistischen Begriffen äußern. Ungeachtet seiner Sperrigkeit habe ich mich entschlossen, das Wort hier zu benutzen (siehe auch Heshusius, 1994) da teilnehmendes Bewusstsein bedeutet, jedenfalls zeitweilig, in nondualistischer Weise zu sein und zu verstehen.

 

 

 

Theory into Practice, Volume 34, Number 2, Spring 1995

 

Copyright 1995 College of Education, the Ohio State University 0040- 5841/95 $ 1.25

 

Weitere Quelle, von Prof. Heshusius empfohlen: The Other Side of Language, A Philosphy ofListening, Gemma Coradi Fiumara, Routledge Verlag, ISBN o-415-04927-x

 

Übersetzung: Isolde Kock, Dez. 2011

 

Prof. Lous Heshusius erteilte mir die Erlaubnis (Dez.2011) zur Übersetzung des Artikels

 

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Te Whâriki

Early Childhood Curriculum

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Das erste Te Whâriki von 1996