Isolde Kock - überarbeitet am 13.01.2020

 

Lerngeschichten aus dem Herzen schreiben

 

 

 

"Wenn Ihr beginnt, Lerngeschichten zu schreiben, denkt daran, sie aus eurem Herzen zu schreiben" 1

 

Diese Aufforderung von Robyn Lawrence im Sonderheft von Sibylle Haas (Das Lernen feiern / Zeitschrift Betrifft Kinder) hat die Frage zur Folge:

 

 

„Wie geht das?“  

 

 

Robyn war es auch, die mir den Artikel von Prof. Lous Heshusius 2 in die Hand gegeben hat. Eine Antwort, wie man aus dem Herzen schreiben kann, finde ich bei Lous, der kreativen Dozentin, die ihren Studenten aufgegeben hat, zweckfreie Gespräche mit Kindern zu führen.

 

Mein kaltes Herz - Mein warmes Herz

 

Warm und hellwach stell ich mir das Herz vor, aus dem Lerngeschichten kommen, von denen das Kind, die Eltern, die Schreiberin selbst profitieren. Kein Mensch will Geschichten über sich hören, die kaltherzig, rein sachlich verfasst sind und seine Defizite schildern. Ich wette, auch keiner Schreiberin machen solche Berichte Spaß.  Zeugnisse sind solche Dokumente.

 

Ich frage mich tatsächlich oft, warum mich Lerngeschichten nicht loslassen seit fast 14 Jahren. Vier Jahre in den letzten Jahren meiner Berufstätigkeit habe ich die positive Wirkung von Lerngeschichten erlebt. Und jetzt, 10 Jahre danach in meiner Rentenzeit bin ich immer noch damit beschäftigt.


Ich weiß, dass ich das Thema Lerngeschichten nicht loslasse, weil sie mich mir selbst näherbringen.

 

Meine Enkel sind in der Schule oder ein Enkel studiert, ich arbeite nicht mehr. Ich bin zufriedener geworden mit mir und meinen Mitmenschen, denn ich habe durch Lerngeschichten zu sehen gelernt, dass lebenslanges Lernen überall stattfindet und ich weiß es auch bei mir zu würdigen.

 

Mit den Jahren wurde mir klar, warum mich Neuseeland mehr interessiert als alle Gedankenausflüge, die ich je als Privatperson und als Lehrerin gemacht habe: ich wage mich jetzt an ein Thema, das ich in der Vergangenheit gerne gemieden habe.

 

Ich bin nämlich 1946 geboren. Menschen sind so gestrickt, dass sie durch Nachahmung lernen. Die mich erzogen haben, Eltern, Großeltern, Lehrer, waren Kinder ihrer Zeit. Der Nationalsozialismus war zwar vorbei aber nicht aus unserer Erziehung verschwunden.

 

Ich schreibe uns, denn ich bin nicht die Einzige, die Spuren aus dieser Zeit an sich selbst findet. Die vergessene Generation von Sabine Bode1 erzählt von meiner Generation und hat viele Beispiele, die mir zeigen, dass ich über die Spuren der nationalsozialistischen Erziehung in mir nachdenken sollte, um sie zu transformieren in „teilnehmendes Bewusstsein“ (siehe Heshusius).

 

Familiengeschichten in Deutschland sind zwangsläufig sehr häufig nationalsozialistische Geschichten. Auch meine ist es. Die eigene Familie muss noch nicht einmal als Täter tief verstrickt gewesen sein, um unter den Auswirkungen unerwartet oft heute noch zu leiden. Viele, die sich daran gemacht haben, Traumatisierungen aus dieser Zeit zu erkennen, sind erleichtert über die dadurch gewonnene Freiheit.

 

Es war für mich anfangs leichter, bei anderen die Spuren der schwarzen Erziehung auszumachen. Bei Praxisbesuchen in Kindergärten und Krippen habe ich oft eine harte Umgangsweise mit kleinen Kindern erlebt. Ein Beispiel vergesse ich nie. In einer der ersten Krippen unserer westdeutschen Stadt lief ein etwa 1;5jähriges Kind einige Male mit seinem Kuscheltier allein quer durch den Raum und zurück. Eine sehr junge Erzieherin sagte dazu, dieses Kind sei nicht bindungsfähig. Die junge Frau war nicht gerührt von der Verlassenheit dieses Babys. Sie sah auch keine Aufgabe für sich aus dem Anblick des Kindes erwachsen. Woher kommt so eine Kälte?

 

 Erkenne dich selbst, erkenne dein Herz

 

Vermutlich ist es meist immer noch Johanna Haarer  2, die sich in so einem hartherzigen Verhalten zeigt. Die meisten PädagogInnen kennen deren Namen nicht. Sie sind jedoch mit den Ideen der Autorin von „ Die Mutter und ihr erstes Kind“ vertraut. Meine Generation hat nämlich unbewusst weitergegeben, was Johanna Haarer bis weit in die 80er Jahre in Deutschland vermittelt hat. Wir sind zwar mit Summerhill und  anderen antiautoritären  Erziehungsmodellen aufgewachsen, wurden aber praktisch nach Johanna Haarer erzogen.

 

Wenn man die Gedanken und Forschungsergebnisse von Sigrid Chamberlain3 und Sabine Bode liest, weiß man, wie die Schriften von Haarer nachwirken bis in unsere Zeit. Johanna Haarer hat mehr als ein halbes Jahrhundert lang Müttern eindringlich vermittelt, dass Kinder schon vom Säuglingsalter an eine unerbittliche, strenge Erziehung bräuchten. Das hat sich tief in unsere Familien eingeprägt und wird handelnd weitergegeben.

 

Wenn ich ehrlich reflektiere, entdeckte ich unangenehmerweise genau diese übernommene Härte auch bei mir selbst. Das beschämt mich zwar immer wieder, macht mich aber auch eins ums andere Mal wach und gibt den Anlass, bewusst zu sein und zu handeln.

 

 Wie sollte ich aus dem Herzen Lerngeschichten schreiben, wenn ich Kinder eher zu disziplinieren gelernt habe, statt sie liebevoll zu begleiten? Aus dem Herzen schreiben! Wie lernt man das? Wie lerne ich es? Wie übe ich es, wenn ich an mir merke, dass sich selbst noch im Umgang mit meinen erwachsenen Kindern die innere Pädagogin ziemlich oft urteilend zu Wort meldet und dann auch prompt Abstand schafft, statt liebevolle Beziehung?

 

Es tut mir gut, wenn die Pädagogin in mir schweigt. Und sie zieht sich zum Glück mittlerweile ganz schnell zurück, wenn ich sie  erkenne. Ich gebe ihr keine Gelegenheit mehr, die Kontrolle über meine Beziehungen zu übernehmen. Um mich wächst plötzlich alles auch ohne meine pädagogischen Absichten!  Ich staune, was ich jetzt alles erfahren kann über mich und meine erwachsenen Kinder und den erwachsenen Enkel. Mit den Enkeln im Schulkindalter erlebe ich mich teilnehmend zuhörend und teilnehmend zusehend, denn mein Blick wird offener, zunehmend befreit von pädagogisch gefärbten Plänen und kaltherzigen Analysen.

 

Die Frage, was wir möglicherweise gemeinsam haben, erlebe ich als die friedvollste aller Fragen und als eine Schlüsselfrage in jeder Begegnung. Sie öffnet meinen Blick und mein Herz und stimmt mich wohlwollend, weil ich mehr verstehe, was andere bewegt.

 

"Aha, so geht das auch" ist immer öfter mein innerer Kommentar. In diesem friedlichen Zustand ist es mir möglich, das Lernen der Kinder und das eigene Lernen von Herzen zu feiern. Und wenn ich dieses gefühlte Feiern aufschreibe, ist es eine Lerngeschichte „aus dem Herzen geschrieben“.

 

Ein erstauntes "AHA" ist übrigens wirklich der einzig starke Kommentar, der die kaltherzig kontrollierende

Dauerpädagogin in mir in Schach halten kann.

„AHA, du schon wieder?“  -  und schon

hat mein Herz Platz!

 

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1 Robyn Lawrence ELP / Educational Leadership Project / Zitat aus: Das Lernen feiern Sonderheft der Zeitschrift Betrifft Kinder / Lerngeschichten aus Neuseeland / Sibylle Haas / 2012

 

2 Kindern zuhören „Was könnten wir möglicherweise gemeinsam haben?“ Von der Betrachtung des Selbst zu teilnehmendem Bewusstsein 2)Prof. Lous Heshusius / 1995/ Theory into Practice, vol. 34 no. 2, pp. 117–123 Professorin für Erziehung an der York Universität, Toronto 3Außerdem:  Sabine Bode/ Die vergessene Generation / Klett-Cotta /14. Auflage 2014, ISBN: 978-3-608-94797-7)

 

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Te Whâriki

Early Childhood Curriculum

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Das erste Te Whâriki von 1996