Das Herz des

Lerngeschichten Schreibers

Unspektakuläres Lernen

Lerngeschichten sind Forschungsberichte. Sie handeln davon, was Kinder tun, wofür sie sich vermutlich interessieren, was sie möglicherweise denken und fühlen, womit wir sie vielleicht unterstützen können.“ 3

Lerngeschichten sind auch Berichte über den, der die Lerngeschichten schreibt.

Der Pädagoge hat das Kind gesehen und gehört. Er fasst das Gesehene und Gehörte in Worte und er wählt den Augenblick aus, den er für magisch und wichtig erachtet.

Warum gerade dieses Ereignis von ihm niedergeschrieben wird, hängt von seiner „Sehfähigkeit“ und „Hörfähigkeit“ ab, von seiner Aufmerksamkeit, von seiner Beziehung zum Kind. Die Forschungsarbeit von Lous Heshusius, 1995 veröffentlicht, zeigt dies deutlich. Was sie als Zuhören in teilnehmendem Bewusstsein bezeichnet, meine ich beiSibylle Haas ebenfalls zu finden. Sie schreibt über genau diese Art des Zuhörens im Zusammenhang mit ihren Forschungen in Neuseeland: „Aus der distanzierten Beobachtung wurde eine teilnehmende Beobachtung, bei der persönliche Anteilnahme und Gefühle gezeigt werden dürfen“.5)

Als ich in Neuseeland bei Expertinnen für Lerngeschichten (ELP) in die Lehre ging, schien es mir teilweise zauberhaft, mit welcher Sicherheit Pädagoginnen dort die Situation von Kindern als bedeutsam identifizierten. Die Kinder waren „einfach da“, spielten, forschten, entdeckten, nahmen Kontakt auf, fragten, erzählten, entschieden sich für Spielpartner, nutzten Angebote, ruhten sich aus, aßen. Aus diesem scheinbar unspektakulären Leben entstanden Lerngeschich- ten. Da war kein Warten auf einen besonderen Moment, für den es sich „lohnte“, Notizen zu machen. Der hier im Anschluss vorgestellte Artikel der Professorin Heshusius aus Kanada, Toronto, erhellt das Rätsel um die „Hörfähigkeit und Sehfähigkeit“ von Pädagogen.

Ich denke, alle Kinder ( auch in Einrichtungen der Frühpädagogik) machen immer etwas, das für ihr Leben bedeutsam ist. Sie haben jeden Tag unzählige „Premieren“, denn sie leben ja erst kurze Zeit und entdecken erst die Welt. Das Hören und Sehen mit teilnehmendem Bewusstsein und auch das Bewusstsein von möglichen Premieren der Kinder macht es leichter, magische Augenblicke im Handeln von Kindern zu identifizieren.

 

 

 

So übe ich teilnehmendes Bewusstsein

nicht für Kinder

nur für mich

 

Hier wird nur über die Fähigkeit gesprochen, von eigenen Selbst/von sich selbst Abstand nehmen zu können. Es geht nicht um Kinder. Der Erwachsene steht im Mittelpunkt der Überlegungen.

 

Ich wähle hier bewusst zwei Erlebnisse aus Neuseeland, denn dort habe ich gelernt, was teilnehmendes Bewusstsein ist und wie sich Pädagogen gegenseitig unterstützen beim

Einüben. Ich habe dort erlebt, wie man sich gegenseitig hilft, zu erkennen, was im eigenen Verstand und in den eigenen Gefühlen vorgeht.

 

Hallo, Mama!

Ich war für ein paar Stunden in einem Kindergarten in Auckland und war aufmerksam für Besonderheiten, die ich gerne mit nach Deutschland nehmen wollte. Mailin fiel mir irgendwann auf auch wegen ihrer roten, weiß getupften Hose und ich fand sie einfach nur "süß". Sie war ein asiatisches Mädchen in diesem Kindergarten für Familien aus Kriegsgebieten.

Ich muss im Nachhinein erkennen, dass ich so ein vages aber allumfassendes Gefühl von Mitleid hatte mit allen Kindern und ich war damit beschäftigt, zu entdecken, ob an den Kindern die Schrecken ihrer Vergangenheit sichtbar waren. Das könnten andere als Sensationslust ansehen. Dagegen weigere ich mich natürlich (vergebens). Ich war also weit weg von den Kindern, wie sie an diesem Tag einfach nur in ihrem Kindergarten und ihrer Krippe waren, mit Premieren und gewohntem Spiel beschäftigt. So kann ich mich von meinen eigenen Gedanken wegtragen lassen, wenn es in Wirklichkeit um teilnehmendes Bewusstsein geht, um sehen und fühlen zu können, was die Kinder jetzt und hier bewegt!

 

Mir wird beim Schreiben in diesem Moment besonders klar, dass teilnehmendes Bewusstsein mit Sentimentalität und Mitleid wirklich gar nichts zu tun hat. Sentimentalität will Realität nicht sehen und Mitleid schafft Hierarchien und entmündigt den Bemitleideten. Teilnehmendes Bewusstsein hingegen findet auf gleicher Augenhöhe statt und ist darauf gefasst, die Situation des Anderen zu sehen und rechnet mit Veränderung des eigenen Standpunktes.

 

Mailin# hatte gerade ihr Fläschchen von einer Erzieherin bekommen. Diese hatte sich dem kleinen Mädchen ruhig und mit voller Aufmerksamkeit gewidmet. Mailin konnte sich schon ganz gut auf ihren Beinchen halten und wandte sich jetzt den Dingen zu, die sie fand. Ein Handy war schnell an ihrem Ohr und sie begann in das Handy zu sprechen, wie ein Kind spricht, wenn es noch nicht ganz ein Jahr alt ist. Das hat mich wieder in die Richtung gebracht, sie nur "süß" zu finden. Es sollte aber eine Aktion folgen, die die Kompetenz des kleinen Mädchens zeigte. Nicht "süß", sondern klug und mutig.

Zielstrebig kurvte sie nämlich um Möbel, Kinder und Spielsachen herum und gelangte, ununterbrochen sprechend, auf die Rasenfläche und vor die verschlossene Eingangspforte des Kindergartengeländes. Dort versuchte sie, durch die Stäbe zu lugen. Fortwährend sprach sie. Ich war ihr in großem Abstand gefolgt und sah, dass sie ihr Sprechen unterbrach, wenn sie intensiv in eine Richtung schaute. Das alles sah für mich danach aus, als wartete sie auf ihre Mama, die sie herbeitelefonieren wollte. Ich glaube, dass in diesem Moment erst so etwas wie teilnehmendes Bewusstsein in mir stattfand, denn ich begann zu verstehen, was dieses Baby dort machte, ich konnte fühlen, dass sie etwas tat, was mir vertraut war. Natürlich warte ich nicht auf meine Mama, aber ich weiß, wie es sich anfühlt, wenn ich meine Lieblings-Menschen vermisse.

Da Mailin eine recht lange Zeit dort vergebens telefonierte, rief ich sie und winkte ihr zu mit einladenden Gesten: „Komm zurück, ja, komm, ich warte auf dich!“. Ich wusste ja , dass die Mutter nicht kommen würde und wollte, dass die einsame Suche des Kindes nicht so lange dauerte. Sie ließ das Handy fallen, wo sie stand und kam wieder auf die Fläche unter dem Sonnensegel am Haus, wo sich ihre Erzieherin noch mit den anderen Babys befand.

Ich sehe eine mutige und kluge, emotional anspruchsvolle Leistung darin, sich vom Zustand der Sehnsucht nach einem Lieblings-Menschen wieder in die Realität zu bringen, da ich doch weiß, wie sich das anfühlt.

Weitere Überlegungen, was in mir vorging, was uns gemeinsam war.

Weit entfernt von meiner Familie nutzte ich jede Gelegenheit, um mit ihnen in Kontakt zu kommen. Ich telefonierte und schickte Mails. So machte es Mailin, die ich mit dem Handy durch den Kindergarten den langen Weg zur Pforte zurücklegen sah. Sie sehnte sich genauso nach ihrer Mama, ich wünschte mir meine Familie näher.

Mailin kannte sich aus mit der Funktion eines Handys und wollte damit den Kontakt zu ihrer Mama herstellen. Sofort handelte sie, machte sich auf den Weg und versuchte das Mögliche. Dass es nicht geklappt hat, muss enttäuschend gewesen sein. Ich kenne dieses Gefühl gut und weiß dass ich oft noch eine ganze Weile daran zu knabbern habe, wenn ich eine dringende Botschaft nicht loswerde. Froh bin ich, wenn sich ein Ersatz bietet. Mailin hat mein Winken offenbar als Einladung und willkommenen Ersatz angenommen und ihre Enttäuschung bewältigt.

Mich verbindet seit Jahren diese Erinnerung mit dem kleinen chinesischen Mädchen. Mailin und ihre Mutter wissen nichts davon. Ich hatte den Kindergarten für drei Stunden besucht und sah damals keinen Grund, eine Lerngeschichte zu schreiben.

Ich weiß inzwischen, dass Kathryn Delany auch nach solchen zeitlich begrenzten Besuchen Lerngeschichten in die Einrichtung schickt. Sie hat den Zustand des Hörens und Sehens mit teilnehemndem Bewusstsein so trainiert, dass er scheinbar immer da ist. Das empfinde ich als ganzheitlichen Zustand. Körper Seele und Geist sind komplet anwesend. Daraus wuchsen vor meinen Augen Lerngeschichten für Kinder auch nach drei Stunden gemeinsamer Zeit.

#Der Name ist frei gewählt. "Mailin" gibt es in Auckland.

 

Are you ready?

Der 4jährige Ronald# in Superman Kostüm wartete auf mich. Wir wollten in den Garten im Innenhof des Kindergartens und dort eine Gottesanbeterin beobachten, die er schon auf der Hand trug. Das war unsere Verabredung, die der Junge vorgeschlagen hatte. Ich wollte schnell noch etwas erledigen, war schon auf dem Weg, wurde aber von einer Pädagogin angesprochen und ich hielt mich bei ihr auf. Der Junge wartete eine Weile, immer noch das Tier auf der Hand und fragte mich dann: „Bist du bereit?“. Ich folgte ihm erst nach dieser Erinnerung auf den Innenhof der Einrichtung.

Was haben wir vielleicht gemeinsam, Ronald und ich?

Wenn ich mich für eine Unternehmung mit einem Erwachsenen verabredet habe und erlebe, dass mein Partner mich warten lässt, ein Gespräch mit einem Anderen dazwischen

schiebt, bin ich wütend oder enttäuscht über diese Zurücksetzung oder beides. Vielleicht verzichte ich dann ganz auf die Verabredung. Wenn ich Ronald als gleichbedeutend angesehen hätte, hätte ich ihn wegen der Unterbrechung um Verständnis gebeten oder ich hätte die Erzieherin gebeten, das Gespräch auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen.

Wenn ich etwas Interessantes sehe, ist es für mich am schönsten, dies mit jemandem zu teilen. Ronald wollte mir, der fremden Besucherin, die Gelegenheit gegeben, mich zugehörig fühlen zu können. Damit bin ich umgegangen wie jemand, der die Absichten und Gefühle von Kindern als zweitrangig anzusehen gewohnt ist. Wenn ich ehrlich bin, war es genau so. Mit welcher Berechtigung habe ich mir angewöhnt, so zu denken und zu handeln? Ich weiß doch selber genau, wie es sich anfühlt, ein freunschaftliches Angebot ausgeschlagen zu bekommen.

Liebeskummer kenne ich auch. Der ist die gesteigerte Variante zu einer Zurückweisung der harmloseren Sorte. Ob meine Zurückweisung für Ronald harmlos war? Ich kann es nur hoffen.

# der Name ist frei gewählt. "Ronald" gibt es in Greerton.

 

 

 

 

 

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Te Whâriki

Early Childhood Curriculum

1 Te Whâriki.pdf
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Das erste Te Whâriki von 1996